Der Blick vom Weissenstein

 

"Die ich rief, die Geister..." Bisweilen kommen sie aus der Flasche oder dann "von oben". Aber es ist auf jeden Fall erhellend, von einem Geistlichen zu erfahren, wie er die Corona-Zeit erlebt und bewältigt hat, und nicht minder spannend, wenn ein Edelschnapsbrenner aus dem Fass plaudert: Christian Orator, preisgekrönter Destillator und Josef Güntensberger, ehemaliger Banker und heute katholischer Seelsorger berichten.

Lieber Christian, wie geht es Dir?

Persönlich geht es mir und meiner Familie hervorragend. Wir sind gesund, voller Zuversicht und haben viel zu lachen. Ausserdem sahen wir es als enormes Privileg an, die Pandemie in der Schweiz durchleben zu können, auch in dieser Situation einer der besten Orte der Welt.

 

Unsere Destillerie hat im Zuge des Lockdowns stark gelitten. Wir hängen natürlich von Gastronomie/Hotellerie und Events ab. Auch bei unseren sehr treuen Privatkunden konnten wir feststellen, dass das Ausgabeverhalten vorsichtiger wurde. Glücklicherweise verderben unsere preisgekrönten Bio Spirituosen nicht.

 

Wir haben als eine der ersten Destillerien die Produktion von Handdesinfektionsmittel aufgenommen. So konnten wir Kurzarbeit vermeiden,unsere Mitarbeiter voll beschäftigen und unsere Kosten decken. Wir mussten weder Kredit noch sonstige Hilfsgelder beanspruchen.

 

Wie hat sich Dein Alltag verändert?

Externe Kundenbesuche waren unmöglich, gebuchte Events (z.B. beliebte Destillerie-Führungen mit Fassproben, Gin Blendings, Degustationen und Firmenanlässe mit Abendessen zwischen den Brennkesseln) und Messen wurden verständlicherweise abgesagt. Kundenbesuche in der Destillerie nahmen auch stark ab. Jetzt beginnt das alles wieder, und wir freuen uns sehr darauf.

 

Wir nutzten die Zeit auch für Wartung, Reparaturen, überlegten uns so manchen Prozess neu und arbeiteten an neuen Produkten, z.B. Himbeergeist mit Muskatfass Finish.

 

Privat erfreuten wir uns des unerwarteten Geschenks, unsere beiden Söhne, die im Ausland studieren, für neun Wochen bei uns zu haben. Unser privater Lockdown war geprägt von viel gemeinsamer Zeit, die wir mit Gesprächen, Sport und miteinander Kochen & Essen verbrachten. Wir alle haben das sehr geschätzt.

 

Wie hast Du seit Anfang März Dein engeres Umfeld erlebt? Hat sich die Qualität dieser Beziehungen verändert?

Mit Kunden, die zum Einkauf in die Destillerie kamen, ergaben sich vertiefte und vertrauensvolle Gespräche mit grosser Bereitschaft "aufzumachen" und mehr von sich preiszugeben. Wenn Interaktionen seltener werden, werden sie mehr geschätzt. Wir haben uns für diese Besucher gerne mehr Zeit genommen, und sie konnten so manche Probe von den Rumfässern oder von den neuesten Pfeffergeisten, quasi zur inneren Desinfektion, geniessen.

 

Dank Kommunikationsmedien haben wir mit Freunden im In- und Ausland eng Kontakt halten können und viele wertvolle Gespräche erlebt. In ungewöhnlichen Zeiten denkt man auch verstärkt darüber nach, wer einem wirklich wichtig ist und wem man in solchen Zeiten nah sein möchte.

 

 

Was sind aus Deiner Sicht die nachhaltigsten Konsequenzen von Corona? 

Ich glaube nicht daran, dass alles anders wird. Wir sind zu sehr Gewohnheitstiere. Ein paar Wochen reichen da nicht aus, um unser Gewohnheiten nachhaltig zu verändern.

 

Das Überdenken von wirtschaftlichen Ketten und Abhängigkeiten wird stattfinden, zum Teil leise und unbemerkt über Zeit. Geschäftsmodelle werden hinterfragt und angepasst werden.

 

Die Rückzahlung der ungeheuren epidemiebezogenen Verschuldung wird uns lange beschäftigen, wobei auch hier unsere Schweiz privilegiert sein wird. Ich hoffe, dass diese Last nicht auf die kommenden Generationen geschoben wird.

 

Ich erwarte, dass Gesundheit weniger als selbstverständlich betrachtet wird, die Ohnmacht vor einem "kleinen" Virus sitzt uns noch lange tief in den Knochen.

 

Gibt es für Dich auch positive Aspekte der Krise?

Der Wert von Gesundheit, Freiheit, offenen Grenzen, Mobilität und gediegener sozialer Interaktion wird plötzlich sichtbarer, geschätzt und nicht für selbstverständlich genommen.

 

Der Zusammenhalt und die Disziplin von allen Bewohnern der Schweiz war eindrücklich.

 

Kreativität und Flexibilität gaben Schub für flotte Anpassungen an die Umstände und für so manche nachhaltige Entwicklung (digitale Kommunkation, work from home). Viel mehr Menschen als in Normalzeiten habe ich Sport betreiben sehen.

 

Vermehrtes home-cooking hat wahrscheinlich auch zu bewussterer Ernährung beigetragen.

 

Welches sind die Lehren, die wir aus der Corona-Krise ziehen sollten?

Gemeinsame Problemlösung ist effizienter als gegeneinander oder alleine zu arbeiten. Solidarität ist effektiver als Eigensinn. Optimiert ist nicht immer optimal. Die Sicht für das Ganze (Globalisierung), inklusive Lieferketten ist angesagt. Risikomanagement erhält eine neue - leider empirische - Dimension.

 

Wie lautet Dein Appell oder Leitsatz an die Öffentlichkeit?

Im Privaten: Zeit füreinander nehmen, kreativ bleiben. Auch im Juni Disziplin aufrechterhalten, was Covid-19-Bekämpfung angeht, und denen helfen, die sich nicht selbst helfen können. Letzteres gilt auch für uns als sehr privilegiertes Land gegenüber armen Nationen.

 

Zum Autor:

Dr. Christian Orator, promovierter Jurist, gilt als der passionierte Handwerker der Spirituosengilde der Schweiz. Sein Credo: "Nur mit der Natur kann Gutes erzeugt werden, so ist das Beste gerade gut genug", widerspiegelt sich beim Verkosten und Geniessen seiner sortentypischen Destillate. Er pröbelt und findet Kombinationen, die auf den ersten Blick verrückt erscheinen, aber beim Degustieren ihre wahre Finesse offenbaren und höchsten Genuss bereiten.

 

www.orator.ch

 

Lieber Josef, wie geht es Dir?

Vielen Dank, mir geht es gut. Alle Personen in meinem persönlichen und beruflichen Umfeld sind wohlauf. Dafür darf man dankbar sein.

 

Wie hat sich Dein Alltag verändert?

Corona betrifft uns alle und die doch markanten Massnahmen der letzten Monate zeigen dies auch. Und gleichwohl ist es einfach, vielleicht zu einfach - unser Lebensstandard verharrt für die meisten auf sehr hohem Niveau -, sich als Nicht-direkt-Betroffener, vom Leid, das durch die Corona-Epidemie verursacht wird, abzugrenzen oder davon zu distanzieren.

 

Die gewichtigste Auswirkung von Corona, die ich selbst verspüre, ist vermutlich das Social-Distancing. Es braucht neue, innovative Ideen, um den Menschen nahe zu sein. Gleichzeitig wird die Not, die oft früher schon unterschwellig vorhanden war, akuter. Ich denke hier vor allem an Armut, Jobsicherheit etc. Covid-19 zeigt, dass diese Probleme nicht nur fern von uns auftreten, sondern auch vor unserer eigenen Haustüre bestehen.

 

Was mich besonders beeindruckt hat, ist die Tatsache, wie vor allem auch ältere Menschen, die alleine oder in Heimen leben, mit den Einschränkungen, die sie sicherlich viel härter getroffen haben als die Personen, die im aktiven Berufsleben stehen oder im Kreise ihrer Familie leben - Risikogruppen sollten ja zu Hause bleiben, jeglichen physischen Kontakt (auch mit ihren Liebsten) vermeiden und sich von anderen helfen lassen - umgegangen sind. Natürlich gibt es Fälle, wo man sich bevormundet fühlte, aber im grossen und ganzen wurde die Situation doch meist mit grossem Verständnis und sichtbarer Dankbarkeit angenommen. Da ich mich selbst eher als ungeduldigen Menschen erfahre, kann ich mir hier sehr wohl eine Scheibe abschneiden.

 

Wie hast Du seit Anfang März Dein engeres Umfeld erlebt? Hat sich die Qualität dieser Beziehungen verändert?

Die physische Distanz, abgesehen von Personen im selben Haushalt, wurde grösser und dies durch alle Beziehungsschichten hindurch. Diese Distanz wurde aber oft, wenn die Möglichkeiten bestehen, durch andere Kommunikationsmittel überbrückt. Aber das nicht physisch Nahe-sein-können, also die Notiznahme eines Mankos, hat den Mitmenschen aus dem oft Abstrakten ins Reale treten lassen. In unserer individualisierten Welt hat der Mitmensch (Nachbar, medizinisches Personal...) durch die physische Distanzierung ein "Bewusstsein" erhalten und wird gerade durch seine Distanz, oder eben z.B. geleistete Hilfe, wo die Abstandsregeln nicht eingehalten werden können und damit ein Risiko bewusst eingegangen wird, wahrgenommen. Es ist eine verstärkte Offenheit gegenüber dem und für den Anderen entstanden.

 

Auch wie die Jungen sich für die Älteren eingesetzt haben - es wurde eingekauft, Karten gezeichnet,.. - ist ebenso beeindruckend, wie die Älteren, die sich in ihr temporäres Schicksal geschickt haben.

 

Was sind aus Deiner Sicht die nachhaltigsten Konsequenzen von Corona? 

Betreffend Nachhaltigkeit bin ich persönlich etwas vorsichtig. Der Mensch hat leider die Tendenz, das Positive oder die Erkenntnis notwendiger Veränderungen schnell zu vergessen und in die "alten" Gewohnheiten und Bequemlichkeiten zurückzufallen.

 

Aber ich glaube, dass diese Periode, trotz all dem Schrecklichen, das wir nebst aktiver Hilfe leider oft nur im Gebet mittragen können, auch positive Seiten hat. Viele Menschen haben bemerkt, wie sehr wir letztendlich als Gemeinschaft unterwegs sind oder sein sollten. Ebenso wurde echte Demut im Agieren vieler Menschen sichtbar. Nämlich die Bereitschaft, sich selbst nicht länger als einzigen Mittelpunkt unserer Welt zu betrachten, sondern selbst einen Schritt zurückzumachen, sodass auch der oder das Andere ins Blickfeld kommt. Und die Bereitschaft zur Solidarität, zur Selbstbeschränkung zu Gunsten der Risikogruppen, zur Hilfeleistung, zum Akzeptieren der veränderten Umstände etc. hat dies mehr als deutlich gemacht. Zusätzlich ergibt sich durch die Corona-Pandemie ein Ausgeliefertsein. In einer Welt, in der man nur jemand ist, wenn man alles ganz und gar immer unter Kontrolle hat, wurde uns bewusst, dass in den entscheidenden Momenten unseres Lebens oft nicht alles nur in unserer Hand liegt, dass wir aber - und das beinhaltet natürlich eine Aussage des Glaubens - auch noch in diesen Zeiten, in Leid und Not immer gehalten sind von dem, der uns übersteigt, ins Leben gerufen hat und uns eines Tages in seiner Gegenwart vollenden wird.

 

 

Gibt es für Dich auch positive Aspekte der Krise?

Die Arbeitsweise und Methodik in der Seelsorge musste/muss in vielen Bereichen mindestens teilweise in Frage gestellt und überdacht werden. Die vier Grundvollzüge der Kirche (Diakonie - Dienst am Mitmenschen; Martyria - Zeugnis und Verkündigung; Liturgia - gemeinschaftliches Feiern) bringen dies schön zum Ausdruck. Es ist immer gesund, seine Arbeits- und Handlungsweise überdenken zu müssen, sich mit neuen Methoden und Ansätzen zu beschäftigen. So können gerade in Zeiten der Unmöglichkeit neue Möglichkeiten entstehen.

 

Unsere je eigenen Biographien zeigen uns meist, dass wenn wir Krisen als Chancen zu erkennen bereit sind, gerade aus der "Asche" neues Leben erwachsen kann. Ich glaube, das gilt für uns, Institutionen und die Gesellschaft im weiteren Sinne.

 

In einer Epoche, in der wir gewohnt waren, immer alles sofort zu erhalten, müssen wir plötzlich innehalten und bemerken, dass uns heute oft nur noch die Sehnsucht bleibt.

 

Vielleicht aber benötigen unsere Herzen gerade dies, ein sich Ausstrecken nach dem, was uns übersteigt, eine Sehnsucht haben, ein Verlangen. Vielleicht erweist es sich als wertvoll, wenn wir zeitweise wieder mehr ersehnen als erhalten; wenn wir mehr erhoffen als besitzen; wenn wir mehr vertrauen als bestätigt zu wissen, ... vielleicht zeigt sich gerade diese Zeit, obgleich es eine schreckliche Zeit ist, vor allem für die Kranken und die Menschen in den Risikogruppen oder in Notlagen, nach dem Sturm als eine gnadenreiche Zeit. Eine gute Zeit, die Prioritäten zu überdenken und wieder ins Lot zu bringen.

 

Welches sind die Lehren, die wir aus der Corona-Krise ziehen sollten?

Es wäre schön, wenn wir etwas von diesem demütigen Verhalten, das während der Corona-Krise sichtbar wurde, in die Nach-Corona-Zeit hinüberretten könnten und damit unsere Welt grundsätzlich menschlicher würde. Wenn ein wenig der erzwungenen Ruhe, Inaktivität und Stille Teil unseres Lebens würde, sodass wir wieder lernen, nicht nur an der geschäftigen Oberfläche unseres Seins zu verharren, sondern Zeit zu finden für unsere Lieben und Mitmenschen, wie auch für uns selbst und unsere wahren Lebensziele.

 

Wie lautet Dein Appell oder Leitsatz an die Öffentlichkeit?

Ich würde ganz einfach DANKE sagen! Danke allen, die im Leben ihrer Lieben und Nächsten einen Unterschied gemacht haben, vor allem auch denen, die sich selbst zu Gunsten der Anderen zurückgenommen und vielleicht gar grossen Risiken ausgesetzt haben, aber auch für die kleinen, alltäglichen Hilfsdienste, und sei es nur für ein Lächeln oder ein gutes Wort gegenüber einer einsamen Person. Sie alle sind die Helden dieser aussergewöhnlichen Zeit.

 

Zum Autor:

Josef Güntensper hat während rund 33 Jahren in der Finanzbranche im In- und Ausland gearbeitet. Anschliessend hat er, nach einem Abstecher ins monastische Umfeld, das Theologiestudium mit einem Masters Diplom abgeschlossen. Josef arbeitet nun hauptsächlich im Bereich der katholischen Pfarreiseelsorge im Raum Freiburg.

 

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