Der Blick vom Weissenstein
Das Pflegepersonal und die Ärzte - viel Respekt und Bewunderung für ihre Tätigkeit wurde diesen "Helden von Corona" in den letzten Monaten zuteil. Nachdem sich die akute Phase der Pandemie gelegt hat, haben wir uns bei einer Pflegefachfrau und einer Assistenzärztin zu ihren Eindrücken erkundigt:
Liebe Anna, vielen Dank, dass Du Dich für dieses Gespräch zur Verfügung stellst.
Wie geht es Dir?
Mir geht es gut, danke. Ich bin froh, dass ich arbeiten gehen kann und weiterhin einen geregelten Tagesablauf habe. Natürlich fehlen mir meine Freunde und die Familie. Grundsätzlich bin ich aber sehr privilegiert, da meine Arbeitskollegen gleichzeitig auch gute Freunde sind.
Wie hat sich Dein Alltag verändert?
Im Spitalalltag hat sich viel verändert. Die Wintersaison, die bei uns wegen der Nähe zum Skigebiet jeweils sehr stressig sein kann, war von einem Tag auf den anderen vorbei. Alle Operationen, die nicht unbedingt nötig waren, wurden bis auf weiteres verschoben, und viele Notfallpatienten blieben weg, da sie sich vor einer Ansteckung mit Corona im Spital fürchteten. Wir haben also weniger Arbeit als sonst.
Anfangs war die Stimmung im Spital sehr speziell. Ein komisches Gefühl, das Warten auf das grosse Patientenaufkommen mit Zuständen ähnlich wie in Norditalien, die Ruhe vor dem Sturm. Die Anspannung war fast greifbar.
Unsere Region wurde von Corona bisher glücklicherweise grösstenteils verschont. Mittlerweile würde ich sagen, dass das Gesundheitspersonal bei uns gelernt hat, mit dieser steten Anspannung umzugehen. Das Abschalten von der Arbeit musste ich also ganz neu lernen.
Wie hast Du seit Anfang März Dein engeres Umfeld erlebt? Hat sich die Qualität dieser Beziehungen verändert?
Bereits im Studium passierte es mir ständig, dass das Umfeld fast beiläufig, eine Blickdiagnose oder einen therapeutischen Rat, z.B. zum "neuen Ausschlag auf dem Rücken", wollte. Mit der Zeit gewöhnt man sich daran, und mit zunehmendem theoretischem Wissen und klinischer Erfahrung findet man praktisch immer eine mögliche Diagnose oder kann wenigstens Entwarnung geben. Bei Corona ist das anders. Mein Umfeld erwartete von mir z.B. Prognosen bezüglich der Durchführbarkeit eines Festes im September, genauste Informationen dazu, wie lang das Virus nun wirklich auf Oberflächen überlebe, und eine abschliessende Beurteilung darüber, ob es denn wirklich nicht möglich sei, die Mutter zu ihrem Geburtstag kurz zu besuchen.
Meine Antworten: Es könnte noch Monate so weitergehen, könnte aber auch bis September vorbei sein, das Virus sei "wahrscheinlich" etwas robuster als andere Viren der Corona-Familie - aber wer weiss das schon? -, wurden von meinem Umfeld mit Widerwillen und recht unbefriedigt entgegengenommen.
Dazu muss ich ehrlich sagen, dass ich nicht immer so geduldig war, wie ich es gerne gewesen wäre. Ich musste mir immer wieder in Erinnerung rufen, dass man mich ja nicht fragt, um mich auf meiner Antwort festzunageln, sondern einfach aus Unsicherheit. Zu Beginn haben sich die Beziehungen so fast ein wenig Richtung Abhängigkeitsverhältnis entwickelt. Als mein Umfeld allerdings schnell gemerkt hat, dass ich nur sehr allgemein und beim besten Willen nicht abschliessend auf ihre Fragen antworten konnte, hat sich das wieder gelegt.
Was sind aus Deiner Sicht die nachhaltigsten Konsequenzen von Corona?
Mittelfristig wird es meiner Meinung nach zu einer Zunahme der psychischen Erkrankungen und zu Rückfällen bei Suchterkrankten kommen. Gerade ambulante Einrichtungen für solche Patienten haben unter dem Lockdown stark gelitten. Therapiefortschritte, die über Monate erzielt wurden, wurden wieder zunichte gemacht. Auch Forschungsgelder fliessen nun vor allem in die Corona-Forschung. Man wird erst im Zeitablauf sehen, welche Konsequenzen das für andere Krankheitsbilder hat.
Ansonsten denke ich, dass die Skepsis und Unsicherheit gegenüber Körperkontakt und Menschenansammlungen wohl noch Monate, wenn nicht sogar Jahre anhalten werden. Wir müssen erst wieder lernen, Vertrauen aufzubauen.
Gibt es für Dich auch positive Aspekte der Krise?
Auf jeden Fall! Aus medizinischer Sicht denke ich, dass wir - ähnlich wie mit dem Influenzavirus, das für die jährliche Grippewelle sorgt -, lernen werden, mit Corona zu leben. Im Gegensatz zur Influenza hoffe ich, dass die Leute, wenn es denn einen Impfstoff gibt, konsequent impfen lassen und nicht nach wenigen Jahren "impffaul" werden.
Als Person konnte ich insofern von Corona profitieren, als ich die Anforderung an mich selber, ein durch und durch konsequenter Mensch zu sein, überdacht habe. Ich gestehe mir nun eher ein, das ich auch eine ambivalente Einstellung zu Situationen habe und auch im Spannungsfeld zwischen persönlichen Bedürfnissen und einer gewissen Vorbildfunktion als Person im Gesundheitswesen bestehen kann.
Welches sind die Lehren, die wir aus der Corona-Krise ziehen sollten?
Wir sollten uns vor Augen führen, dass wir nicht unantastbar sind und wieder eine gewisse Demut vor der Natur und dem Leben entwickeln. Es ist nicht selbstverständlich und kein Geburtsrecht, dass jeder von uns in bester Gesundheit 90jährig wird und dann friedlich einschläft. Ich denke, wir besinnen uns dank Corona wieder mehr auf das Wesentliche und sehen ein, dass es nicht immer die ganze Fülle an Optionen braucht, um zufrieden zu sein.
Wie lautet Dein Appell oder Leitsatz an die Öffentlichkeit?
Nehmt Corona ernst. Aber vergesst gleichzeitig nicht, dass es sowohl im Gesundheitssystem als auch im Sozialen noch andere Baustellen gibt, die es verdienen, ernst genommen und angegangen zu werden.
Zur Autorin:
Anna Vital ist seit November 2019 Assistenzärztin im Regionalspital Scuol GR (Center da sandà Engiadina Bassa). Ihre Tätigkeit ist interdisziplinär in Rotation zwischen Medizin, Chirurgie und Notfallstation. Ihre Masterarbeit an der Universität Zürich befasste sich mit der Virologie zum Thema HIV.
Liebe Slava, vielen Dank, dass Du Dich für dieses Gespräch zur Verfügung stellst.
Wie geht es Dir?
Momentan fühle ich mich gut. Ich habe keine Angst, keine Panik. Ich finde die aktuelle Situation ungerecht, da es übertrieben ist, alte Menschen im Heim in dieser Form einzusperren. Psychisch geht es ihnen nicht gut, weil sie gar keine Besuche mehr haben und ihre Angehörigen vermissen.
Wie hat sich Dein Alltag verändert?
Für micht hat sich mein Alltag nicht gross verändert. Ich bin froh, dass ich arbeiten kann.
Wie hast Du seit Anfang März Dein engeres Umfeld erlebt? Hat sich die Qualität dieser Beziehungen verändert?
Ich habe mein Umfeld als sehr gespalten erlebt. Es gab nur schwarz oder weiss. Entweder waren sie total ängstlich und auf Distanz oder dann sehr entspannt und mit gesundem Menschenverstand agierend.
Was sind aus Deiner Sicht die nachhaltigsten Konsequenzen von Corona?
Unsere Wirtschaft geht kaputt. Durch die Angst sind viele Menschen nun psychisch belastet, und es werden dadurch noch viele weitere Krankheiten entstehen.
Gibt es für Dich auch positive Aspekt der Krise?
Mehr Zeit für die Familie. Die Leute sind weniger gestresst. Es wird nicht mehr so gehetzt. Man nimmt sich Zeit füreinander, und jeder hat jetzt die Möglichkeit, kreativ zu werden.
Welches sind die Lehren, die wir aus der Corona-Krise ziehen sollten?
Die Verantwortlichen sollten für solche Ausnahmesituationen besser vorbereitet sein. Machtverhältnisse der Entscheidungsträger sind zu überdenken.
Wie lautet Dein Appell oder Leitsatz an die Öffentlichkeit?
Unsere Freiheit darf nicht missbraucht werden. Hört auf, zu viel Medien zu konsumieren! Ich habe das Gefühl, dass die Leute zu viel fernsehen und dass dies zu noch mehr Angst führt. Sie verlieren so ihre Zuversicht und ihr Vertrauen.
Zur Autorin:
Slavojka Josipovic stammt ursprünglich aus Bosnien. Sie kam mit ihrer Familie vor 27 Jahren in die Schweiz und liess sich hier zur Pflegefachfrau ausbilden. Seit 2000 ist sie in der Langzeitpflege und -betreuung tätig.
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